(von Ulrike Körber)
Ein Tag an dem man Besuch bekommt ist ein guter Tag, wenn sich ansonsten der Nachmittag kaum vom Vormittag unterscheidet, wenn sich das Leben hauptsächlich in einer kleinen Wohnung abspielt und Unternehmungen nicht mehr möglich sind. Ein sehr guter Tag!
Frau L. erwartet mich an diesem sonnigen Frühlingsnachmittag freudestrahlend an der Wohnungstüre ihrer Dachgeschosswohnung, die vom Wohnzimmer aus einen herrlichen Ausblick auf grüne Wiesen und Bäume am Ortsende von Weiler zum Stein bietet. Sie hat sich hübsch gemacht und trägt ein festliches Kleid. Gestern hat sie ihren 92. Geburtstag gefeiert. Ich bringe ihr meine Glückwünsche im Namen unserer Kirchengemeinde und ein kleines Präsent. Sie führt mich ins Wohnzimmer und wir setzen uns gegenüber an ihren kleinen Esstisch. Frau L. erzählt mir, dass sie gestern Abend im Familienkreis mit sieben Gästen aus der Familie gefeiert hat. Sie schwärmt: “Alle hatten sich um den Couchtisch versammelt und es gab leckeren Schweinebraten, den mein Sohn, der Metzger von Beruf ist, für uns zubereitet hat. “Wir erzählen über Geschehenes am Ort, über eine Bekannte aus unserer Kirchengemeinde, die sie regelmäßig besucht, bis die Rede – wie so oft bei meinen Besuchen – auf die früheren Jahre kommt.
Es wird mir immer bewusst, dass wir gerade in diesen einsamen Zeiten das Gespräch und die Zuwendung von anderen brauchen. Lebensfreude entsteht im Sozialkontakt. Oft sind die Erinnerungen aus einem langen und erlebnisreichen Leben in der Wohnung meiner Besuchten dokumentiert. An den Wänden hängen Hochzeitsfotos von Kindern, Fotos von Enkeln und Urenkeln. Das sind die Momente, in denen die Lebensgeschichten meiner Besuchten aufblitzen und die Augen zum Leuchten bringen: Kriegsereignisse, Flucht, Hunger und Armut – aufwühlende Erlebnisse, die ich mir in den Friedenszeiten Europas nicht vorstellen kann. Ich lerne andere Perspektiven des Lebens kennen.
Frau L erzählt mir, dass sie neulich eine Verletzung am Bein hatte und die Wunde war viele Wochen nicht verheilt. Sie konnte die Wohnung nicht verlassen und das Gehen, das eh‘ schon schwer gefallen ist, musste sie weiter vernachlässigen. Aber jetzt möchte sie sich wieder ganz langsam draußen mit dem Rollator bewegen, wieder ein kleines Stück Freiheit für sich dazu gewinnen: „Ich schäme mich nicht, draußen mit dem Rollator zu fahren“, blickt sie mich ganz bestimmt an. Ich erfahre, dass das Leben wertvoll ist, egal unter welchen Bedingungen es stattfindet. Häufig intensiviert sich auch die eigene Freude an meinem Leben, ich schätze den Wert meiner eigenen Gesundheit. Frau L. freut sich, dass ich zu ihr komme und ihr zuhöre, auch wenn es scheinbar wenig zu berichten gibt. Ich bin jemand, der wissen will, ob das Bein noch schmerzt und wie das Essen, das sie jeden Tag von der Diakonie aus Waiblingen geliefert bekommt, schmeckt.
Sie erzählt mir, wie organisiert ihr Leben ist – ihre Nichte kommt dienstags zum Putzen und freitags schwärmt sie, kommt die Dame von der Sozialstation zum Badetag, was sie ganz besonders genießt. Sie zeigt mir den Lift in der Badewanne und erklärt mir, wie mühelos alles von statten gehen kann. Ich lasse ihr Raum zum Erzählen, dränge mich nicht in den Vordergrund. Wenn nichts kommt, frage ich nach, erzähle mitunter eine kleine Geschichte oder finde einen Punkt, an dem ich wieder anknüpfen kann. Aber vor allem höre ich zu und genieße, wie sich mein Gegenüber öffnet.
Frau L. erzählt mir von ihrer älteren Schwester, die seit kurzem in Winnenden im Pflegeheim bei der kath. Kirche untergebracht ist. Ihrer Schwester geht es viel schlechter als ihr, bemerkt sie: „Sie erzählt manchmal ganz wirre Dinge“ und Frau L. amüsiert sich ein wenig über die merkwürdigen Geschichten. Gleichzeitig erzählt sie stolz, dass sie selbst versucht, ihren Geist fit zu halten, indem sie die Tageszeitung und das Amtsblatt liest und auch Fernsehen schaut. Und plötzlich stößt sie aus heiterem Himmel heraus: “Ich habe keine Angst vor dem Sterben“ und dabei lacht sie mich an, als wäre es etwas ganz Alltägliches und dabei schaut sie mir ganz fest in meine Augen. Das sind die Augenblicke, die mich sprachlos machen und ich bewundere ihren Mut. Hänge ich doch so sehr am Leben und da erscheint mir die Welt mit meinen Alltagsproblemen plötzlich ganz klein und unbedeutend. Es ist nicht einfach mit solchen Gefühlen umzugehen. Aber ich habe gelernt, dass es manchmal reicht, einfach da zu sein und auszuhalten.
Nach über einer Stunde bereiten wir uns auf den Abschied vor. Sie drückt meine Hand ganz fest. Viel zu kurz erscheint da die gemeinsam verbrachte Zeit „Was, Sie wollen schon wieder gehen?“ ist eine Frage, die ich ganz häufig beim Abschied höre. Wenn man jeden Tag in dem mehr oder weniger gleichen Umfeld verbringt und gelernt hat, lange Tage in Abschnitte wie vor dem Essen oder bis zum Kaffee zu unterteilen, muss jeder Besuch zu kurz erscheinen.
Seit ein paar Jahren besuche ich Jubilare unserer Gemeinde und es gefällt mir mein Gegenüber – zumindest während meiner Anwesenheit - aus seiner Isolation herauszuholen. Den Kontakt zu Menschen mochte ich selbst schon immer und es fällt mir auch nicht schwer auf andere zuzugehen. Jeder meiner Besuche ist einzigartig und mein Leben wird dadurch auf so vielfältige Weise bereichert. Der „Dienst am Menschen“ ist eine notwendige und sinnvolle Arbeit und ich werde dafür mit viel Freude und Dankbarkeit beschenkt.